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Vedats Hör-Reise

Vedat kam 2018 mit an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit rechts und gehörlos links zur Welt. Da seine leiblichen Eltern gehörlos sind, gehen alle von einer genetischen Ursache aus. Mit 2 Monaten wurde er beidseitig mit Hörgeräten versorgt, um die Hörnerven – so vorhanden – zu aktivieren. Als er 6 Monate alt waren erfuhren wir von ihm. Es sollte noch bis Mitte November dauern, bis wir ihn kennenlernen durften und 2 Wochen später zog unser kleiner Schatz zu uns.

Ja, wir haben uns bewusst für ein Kind mit einer Hörbehinderung entschieden und dass, obwohl nicht klar war, ob er implantiert wird oder nicht. Und ja, es ist gut, dass Eltern nie wissen, was auf sie zukommt. Ich hätte es mir rückblickend vielleicht nicht zugetraut und so viel verpasst!

Vedat hat die Hörgeräte gar nicht gerne getragen und sie sich vom Kopf geschubbert oder abgerissen. Kommunikation war fast gar nicht möglich, da er keinen Augenkontakt gehalten hat. Dank unserer Frühförderung konnten wir das erste Problem schnell lösen, indem wir ein Stirnband der Firma Bajula bestellten (unbezahlte Werbung!). Dieses tragen wir immer noch und es leistet super Dienste. Ganz langsam begann ich mit Gebärden zu beschäftigen. Vedat schrie und kreischte viel und sehr laut. Wir ließen ihn, da man uns sagte, es wäre wichtig, dass er lautiert. Da eine Kommunikation kaum möglich war (Lautsprache hörte er nicht und Gebärdensprache nahm er gar nicht wahr, da er ständig mit den Augen in Bewegung war) war es nicht möglich, ihm irgendetwas zu erklären. Hinsetzen lernte er, indem wir seine Beinchen immer wieder führten, Krabbeln, indem er es sich bei einem anderen Jungen abguckte. Treppen übte ich mit ihm, indem ich fast 2 Stunden mit ihm auf allen Vieren die Treppen rauf und runter krabbelte.

Die Entscheidung, ob Cis oder nicht Cis rückte näher. Diese Entscheidung gehört wahrscheinlich für die allermeisten Eltern zur schwersten überhaupt. Immerhin ist es ein enormer Eingriff, es kann soviel schief gehen und eine Garantie gibt es nie. Was ist das Beste für´s Kind? Soll man es einfach so annehmen, wie es ist oder nimmt man ihm damit eine große Chance? Wo soll der Eingriff gemacht werden? Wann? Wir haben uns die Entscheidung echt nicht leicht gemacht und uns entschieden, dass Vedat mit Cis immer noch irgendwann entscheiden kann, nicht zu hören. Andersherum wird es sehr viel schwerer. Die Wahl des Ortes fiel uns leicht: Hannover. Zum einen haben die die längste Erfahrung und zum anderen komme ich ursprünglich aus Hannover und meine Eltern leben noch dort.

Von unserer Frühförderung erhielt ich im Mai einen Flyer für ein Seminar für besondere Familien vom CIV NRW. Ich rief dort an und hatte Marion Hölterhoff am Telefon. Ich werde nie vergessen, wie wohl, willkommen und verstanden ich mich in diesem Gespräch gefühlt habe. Nein, es war kein Problem, dass wir kein Mitglied sind. Natürlich dürfen wir den großen Bruder mitbringen und wenn irgendwelche Fragen sind – auch über das Seminar hinaus, dann sollte ich einfach anrufen.

Am 01.07.2019 gingen wir zur Voruntersuchung in die Medizinische Hochschule Hannover (MHH). Vedat hat die Narkose gar nicht gut verkraftet und war eine Woche danach noch krank. Es wurde festgestellt, dass ein Hörnerv vorhanden ist und Vedat für ein CI geeignet ist.

Am 06. + 07.07.19 fuhren wir auf unser erstes Familienseminar mit dem CIV-NRW. So viele tolle Familien mit meist deutlich mehr Erfahrung als wir. Es war ein toller Austausch und wir fassten so unendlich viel Mut. Ein wichtiger Meilenstein auf unserer Hörreise mit Vedat!

Am 06.08.2019 wurde Vedat in der MHH beidseitig mit Implantaten versorgt. Die OP lief ohne Komplikationen und die Betreuung auf der HNO in Hannover war super. Nach 2 Tagen war Vedat bis auf ganz leichte Gleichgewichtsprobleme wieder ganz der Alte. Unser Bajula-Stirnband hielt den Verband sicher und sauber an seinem Platz. Der erste Probeton war positiv (wenn auch nur für die Technikerin des Hörzentrums) erkennbar.

Am 09.09.2019 erhielt Vedat im CIC Hannover sein erstes „Horchi“, einen Tag später das zweite. Beide Male zeigte er deutlich Reaktionen auf die Töne. Welches Glücksgefühl! Als wir danach im Warte-Spielzimmer warteten und sich zwei Erwachsene leise unterhielten war unser kleiner Schatz so überwältigt, dass er sich auf den Boden fallen ließ und weinte. Zum ersten Mal reagierte er auf meine Stimme und ließ sich dadurch beruhigen.

Es folgte eine aufregende, anstrengende, glückliche und spannende Zeit. Vedat brauchte eine ganze Weile, um den Nutzen der Implantate für sich zu entdecken. Ihm reichte es nie, sie einfach vom Kopf zu reißen, er baute sie auseinander und zerbiss alle Einzelteile. Wir haben soooooooooooooooo viele Ersatzteile gebraucht, sind sehr oft verzweifelt. Die ersten 3 Monate mit den Horchis schlief Vedat sehr schlecht. Er wachte alle 30 Minuten auf, hatte mit Nachtschreck zu kämpfen und ließ sich nur schwer beruhigen.

Was hilft? Viel Geduld, ein gutes Netzwerk (Frühförderung, CIV-Eltern, CIC) noch mehr Geduld und sich nicht unter Druck zu setzen oder setzen zu lassen! Von niemanden. Ich kenne inzwischen einige CI-Kids und sie brauchen alle ihre Zeit. Die einen (so wie unserer) mehr und die anderen weniger.

Vedat trägt seine Horchis inzwischen vielleicht nicht wirklich gerne aber er akzeptiert sie und trägt sie ca. 8 -9 Stunden am Tag. Er hat ein unglaubliches Sprachverständnis. Er reagiert auf Sprache, wie die meisten anderen Kinder in seinem Alter auch. Noch ist er zu faul zum reden, aber er kommuniziert in einer Mischung aus Lautsprache (Ja, Nein, Mama, Papa, heiß, ich,alle…), Geräuschen (Wasser, Hund, Auto, Katze, …), Gebärden (Essen, Trecker, Da, verschiedene Tiere, Danke, Lecker…) und seiner Kreischsprache. Ständig kommt etwas dazu. Er plappert Worte einfach nach. Einmal und dann ganz lange gar nicht, aber klar zu erkennen. Vedat liebt Musik und tanzen. Am liebsten mag er laute Rockmusik oder Kinderlieder. Er hört Trecker, Feuerwehr, Hundebellen und das Rascheln einer Gummibärchentüte zur Not auch hinter einer verschlossenen Tür.

Da es uns wichtig ist, dass Vedat immer eine Sprache hat, mit der er sich verständigen kann, haben wir im November 2019 mit Gebärdenunterricht angefangen. Leider haben wir aufgrund der Pandemie im Jahr 2020 nur in 4 Monaten Unterricht gehabt.